Möglichkeiten einer wissenschaftlichen und ästhetischen Praxis zur Bewältigung globaler Herausforderungen
„Die offizielle Wissenschaft verachtet die Weisheit der Bescheidenen.
Das vom Gefühl getrennte Denken,
die geschwächte Seele, hat die Verbindung zur Natur abgebrochen
und weiss nicht zu sehen, was die Luft sagt,
was das Wasser singt
oder was die Erde flüstert, wenn die Füsse sie erwecken“.
(Patas arriba: La escuela del mundo al revés, Galeano 1998).
Von Jehisson Santacruz, Originaltext auf Spanish
Das Konzept des „sentipensar“ steht für eine ganzheitliche Art des Wissens, die dem Herzen als Quelle der Weisheit Vorrang einräumt, ohne den Verstand auszuschließen. Es ist tief in den Erkenntnistheorien des Südens verwurzelt und wurde von dem kolumbianischen Soziologen Orlando Fals Borda (1984) bekannt gemacht. Er lernte es von den Bauern in San Benito Abad, die „mit dem Herzen denken und mit dem Kopf fühlen“.
Später mit kritischen Ansätzen wie dem von Arturo Escobar verbunden wurde, steht für eine an Bedeutung gewinnende Epistemologie, welche die dualistischen Paradigmen der westlichen Moderne in Frage stellt. Der Ansatz integriert rationale Erkenntnis mit Emotionen und betont die Wechselbeziehung zwischen Vernunft und Gefühl als legitime und notwendige Form der Wissensproduktion.

Foto: Workshop / Photo Voice mit Schüler:innen in Vals
Wissenschaftliche Grundlagen und Kritik am cartesianischen Dualismus
Der cartesanische Dualismus trennt Geist und Körper, Vernunft und Gefühl. Sowohl die Geistes- als auch Naturwissenschaften wurden von dieser Unterscheidung eingehend geprägt. Neuere Forschungen in den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie haben jedoch gezeigt, dass Emotionen für Entscheidungs- und Denkprozesse von zentraler Bedeutung sind. Antonio Damasio (1994) argumentiert in seiner Somatischen Marker-Theorie (SMT), dass Emotionen nicht nur die Vernunft begleiten, sondern ein zentrales Element bei der Regulierung des menschlichen Verhaltens sind.
In den Worten von Orlando Fals Borda bedeutet sentipensar, eine ganzheitliche Vision zu artikulieren, die Vernunft und Gefühl in einem untrennbaren Akt des Verstehens integriert. Der Ansatz des Sentipensar bietet in dieser Hinsicht einen methodischen Rahmen, welcher Transdisziplinarität erleichtert und Formen des Wissens fördert, die gleichzeitig analytisch, kreativ und mit sozialen und ökologischen Kontexten verbunden sein können. In den Worten von Orlando Fals Borda bedeutet Sentipensar „mit dem Herzen denken und mit dem Kopf fühlen“. Damit artikuliert er eine ganzheitliche Vision, welche Vernunft und Emotion in einem unteilbaren Akt des Verstehens integriert.
Die moderne Forschung unterstützt diesen Ansatz auch durch die „affektive Neurowissenschaft“ (Panksepp, 1998). Hierbei hat sich gezeigt, dass die emotionalen Strukturen des Gehirns, wie das limbische System, dynamisch mit höheren kognitiven Funktionen, wie denen im präfrontalen Cortex, interagieren. Aus dieser Perspektive kann „sentipensar“ als ein neurobiologischer und kultureller Prozess neu interpretiert werden, bei dem sich Emotion und Vernunft gemeinsam weiterentwickeln, um ein kontextbezogenes Verständnis der Umwelt zu erzeugen.
Anwendung in der Wissenschaft und den Künsten
Arturo Escobar (2016) beschreibt Sentipensar als ein epistemisches Werkzeug zum Überdenken von Wissensformen, ausgehend von einer relationalen Ontologie, welche die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Menschen, Gemeinschaften und der nicht-menschlichen Umwelt anerkennt. Eine solche Position ist besonders relevant für globale Herausforderungen wie dem Klimawandel, wo die konventionelle Wissenschaft mit lokalen kulturellen, ethischen und epistemischen Sensibilitäten in Verbindung tritt.
Die Bibliothek für eine glückliche Zukunft übersetzt „sentipensar“ in Praktiken, die traditionell getrennte Disziplinen wie die Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften, die Künste und lokale Erzählungen wieder miteinander verbinden. Diese methodische Integration ermöglicht die Generierung von Wissen, das sowohl stringent als auch menschlich und ökologisch relevant ist. In diesem Kontext manifestiert sich „sentipensar“ als eine Praxis des aktiven Zuhörens und des gemeinschaftlichen kreativen Schaffens, bei dem die lokale Gemeinschaft aktive Teilnehmer und nicht Objekte der Forschung sind. Traditionelle Hierarchien der Wissensproduktion werden damit durchbrochen.
In Vals wurde in Zusammenarbeit mit den örtlichen Vereinen, den teilnehmenden Schüler:innen und den Besuchern der Bibliothek eine erste Analyse der Möglichkeiten der Gemeinde durchgeführt. Auf der Grundlage dieser Diagnose wurden unter Berücksichtigung der verfügbaren Zeit, der Merkmale der Bevölkerung und des spezifischen Kontexts der Gemeinde geeignete Methoden ausgewählt. Die angewandten Methoden basieren auf dem Ansatz des „sentipensar” und stellt eine affektive und sensorische Erfahrung als Ausgangspunkt für den Aufbau von Wissen in den Vordergrund.
In diesem Sinne wurden die Einzelinterviews und Fokusgruppen mit Fragen gestaltet, die zunächst zu einer emotionalen und sensorischen Auseinandersetzung inspirierten bevor eine rationale und strukturierten Reflexion stattfand. Ein konkretes Beispiel für diesen Ansatz ist der Einbezug von Handlungen vor dem Interview, wie z. B. die Verkostung von Wasser aus verschiedenen Quellen im Dorf. Das Aktivieren von Sinneswahrnehmungen versetzt die Teilnehmende in einen Zustand der Offenheit und der Experimentierfreude, was der Forschungspraxis mit Fühlen und Denken entgegen kommt.
Ethische und ästhetische Implikationen des Sentipenar
Sentipensar rekonfiguriert Formen der Wissensproduktion und verändert die ethischen Beziehungen zwischen Forschenden, Gemeinschaften und ihrer Umwelt. Escobar (2016) weist darauf hin, dass eine solche Epistemologie auch gleichzeitig eine politische Dimension hat: Machtstrukturen, die nicht-westliche Wissensformen ausschließen, werden in Frage gestellt. Epistemische Gerechtigkeit wird gefördert, indem beispielsweise der Wert indigener Weltanschauungen anerkannt wird. Auf die Praxis bezogen bietet Sentipensar einen Rahmen für den Aufbau nachhaltiger und kulturell relevanter Lösungen.
Schliesslich beinhaltet Sentipensar auch eine ästhetische Dimension, welche die Bedeutung der Künste bei der Wissensgenerierung unterstreicht. Durch die Integration künstlerischer Praktiken in wissenschaftliche Projekte, etwa zum Klimawandel oder zum Wasserschutz, ermöglicht sentipensar, die Komplexität dieser Themen symbolisch und sensorisch auszudrücken und kann so Empathie und eine emotionale Bindung mit einem breiteren Publikum erzeugen.
Zusammenfassend ist „sentipensar“ aus wissenschaftlicher Sicht eine relationale Erkenntnistheorie, welcheneurowissenschaftliche Fortschritte mit postmodernen kritischen Theorien verbindet und damit einen transdisziplinären methodischen Rahmen bietet. Der Ansatz stellt die traditionellen Hierarchien der Wissensproduktion in Frage und fördert ein ganzheitliches Verständnis von menschlichen und ökologischen Phänomenen. In einer Welt, die mit vernetzten Krisen konfrontiert ist, konsolidiert sich „sentipensar“ als ethisches, wissenschaftliches und ästhetisches Werkzeug, um Lösungen zu entwickeln, die nicht nur effektiv, sondern auch zutiefst menschlich und nachhaltig sind.
Referenzen
● Damasio, A. (1994). Descartes' Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Grosset/Putnam.
● Escobar, A. (2016). Sentipensar con la Tierra: Nuevas lecturas sobre desarrollo, territorio y diferencia. Editorial Universidad del Cauca.
● Fals Borda, O. (1987). El Problema de Cómo Investigar la Realidad para Transformarla. Tercer Mundo Editores.
● Panksepp, J. (1998). Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions. Oxford University Press.
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